Kriegskindheit

Forschungsprojekt an der Ludwig-Maximilians-Universität München - "Kriegskindheit im 2. Weltkrieg und ihre Folgen”

Das “Münchener Kriegskindheits-Projekt”  untersuchte in den Jahren 2003 bis 2009 die langfristige Bewältigung und die Spuren der Kriegskindheit im 2. Weltkrieg nach 60 Jahren.

Es befasste sich mit Menschen, die 1933/36 - 1945 geboren worden sind. Sie geben in anonymen Fragebogen und persönlichen Interviews Auskunft über ihre Erinnerungen, späteren Erfahrungen und heutigen Bewertungen ihres Lebens und ihre Einstellungen zum Thema Kriegskindheit mitteilen.

Das Projekt ist mit der Befragung von ca. 100 “Kriegskindern” in Deutschland abgeschlossen. Die Ergebnisse liegen in mehreren Publikationen vor  (siehe Button Themata)

In einer Pilotuntersuchung wurden zusätzlich Kinder des 2. Weltkrieges in Japan interviewt. Die Ergebnisse wurden im November 2011 an der Universität Kobe vorgestellt

Zusammenfassung.

Das Projekt sollte empirische Beiträge zur Verarbeitung der Kindheit im Zweiten Weltkrieg und unter dem Nationalsozialismus in Deutschland („Kriegskindheit“) erbringen. Dazu wurden die Repräsentanzen der Kriegskindheit nach 60 Jahren in halbstandardisierten Interviews erkundet.
Das Projekt wurde 2003 begründet und lief bis 2009. Die Publikation der Ergebnisse ist erfolgt (Button Publications).
Es stand unter dem Thema „Kriegskindheiten im 2. Weltkrieg und ihre Folgen“  und sollte empirische Beiträge zur Bedeutung der Kindheit im Zweiten Weltkrieg und unter dem Nationalsozialismus in Deutschland  für die persönliche Entwicklung der Betroffenen erbringen. Im Zentrum sanden Interviews, in denen die Repräsentanz der Kriegskindheit nach 60 Jahren erkundet wurde.

Vorstudien

  • In einer Literaturstudie (Vorstudie 1) wurde eine systematische Literaturrecherche zur Thematik der „Kriegskindheit“ in der psychologischen und psychotherapeutischen Fachliteratur durchgeführt. Das Ergebnis zeigt, dass es nur eine geringe Zahl von wissenschaftlichen Arbeiten gibt, die – jenseits der Folgen des Holocaust –  psycho-therapeutische Aspekte der Kindheit im II. Weltkrieg und der NS-Zeit behandeln. Es sind zwar sporadisch immer wieder einzelne Arbeiten erschienen, diese fanden aber keine nachhaltige Resonanz. Die Thematik kann daher weitgehend als Neuland betrachtet werden. (Cisneros 2004)
  • In einer „Berichtsstudie“ (Vorstudie 2) wurden 150 einschlägige Psychotherapieberichte aus dem Gutachtenverfahren zur Kostenübernahme psychotherapeutischer Behandlungen ausgewertet. Dabei wurden im Sinne der qualitativen Sozialforschung Kategorien entwickelt und evaluiert, die es ermöglichen, spezifische Einflussfaktoren der Kriegs- und NS-Zeit auf die individuelle Entwicklung ausfindig zu machen, die von den Bericht erstellenden Psychotherapeuten als bedeutsam für die Entwicklung bzw. Behandlung der Patienten betrachtet werden. Insgesamt zeigte sich, dass die Thematik der „Kriegskindheit“ bei der Darstellung der Biographie einem beträchtlichen Teil der Patienten von den Psychotherapeuten erwähnt wurde, dass diese Erwähnungen aber kaum in die psychodynamische Beurteilung und die Behandlungsplanung  Eingang fanden und auch in den Berichten über die Behandlungsinhalte kaum wieder auftauchten. (Ermann, Hughes und Katz 2007; Katz 2004, Hughes 2005)

Fragebogenuntersuchungen 

  • Die Untersuchung zum Beeinträchtigungserleben befasst sich mit dem Zusammenhang zwischen der Anzahl von Bereichen (z.B. Flucht, Bombardierung, Hunger usw.). in denen kriegsbedingte Traumatisierungen und Belastungen zu verarbeiten waren, und subjektiv erlebter Belastung und Unterstützung (Diplomarbeit Alegiani Sagnotti 2006).
  • Die Untersuchung zur Adultisierung betrachtet den Zusammenhang zwischen kriegskindheitsbedingten Belastungen und familiären transgenerationalen Prozessen, in welchen die Betroffenen „früh erwachsen wurden“, eine allgemeinere Form des sonst als Parentifizierung beschriebenen Phänomens (Diplomarbeit Memmert 2006).
  • Die Stralsund-Studie beschäftigt sich mit der Verarbeitung der Kriegskindheit in Ostdeutschland. Dazu wurden Symptome und Spätfolgen von Traumatisierungen erfasst. Es zeigt sich, dass die Kriegskinder unserer Studien stärker durch posttraumatische Symptome belastet sind als die Durchschnittsbevölkerung (Kuwert u.a. 2006).

Fragebogenuntersuchungen

  • Psychosomatische Spätfolgen der Kriegskindheit in Westdeutschland
  • Psychosomatische Spätfolgen der Kriegskindheit in Deutschland – ein Vergleich zwischen Ost und West 

Interviewstudien

Für diese Studien wurden auf der Grundlage einer breit gestreuten Fragebogenuntersuchung 100 Angehörige der Geburtsjahrgänge 1933 – 1945 rekrutiert, die im Machtbereich des damaligen deutschen Reichsgebietes einschl. der sog. Anschlussgebiete als Deutsche geboren wurden, darunter 30 Psychoanalytiker. Gegenstand der Studie waren die gegenwärtigen Repräsentanzen von Erfahrungen und Beziehungen im Zweiten Weltkrieg und unter dem Nationalsozialismus sowie in der unmittelbaren Nachkriegszeit und die spätere Weiterentwicklung. Diese wurden in einem eigens für diesen Zweck konzipierten semistrukturierten „Interview zur Kriegskindheit“ erfasst. Die Auswertung erfolgte inhaltsanalytisch nach Methoden der qualitativen Forschung

Die Auswertungen der Interviews zur Kriegskindheit bei Angehörigen der Jahrgänge 1933 – 45 enthalten eine Fülle von Material, zu dem die folgenden Studien durchgeführt wurden. 

  • Diskurskohärenz im Interview: Diese Studie untersucht das Kommunikationsverhalten im Interview. Sie erfasst insbesondere Brüche und Auffälligkeiten in der Darstellung ausgewählter Repräsentanzen.
  • Selbstbild und Identität: In dieser Studie werden die Selbstrepräsentanzen unter der Frage untersucht, welchen Einfluss das Schicksal als Kriegskind auf das Selbstverständnis der Betroffenen hat.
  • Objektrepräsentanzen: Es werden das Vaterbild, das Mutterbild, das Bild der NS-Zeit und das Bild des II. WK unter der Frage untersucht, was erzählt wird, wenn diese Bilder im Forschungsinterview aktiviert werden.
  • In Psychoanalytiker-Studien mit 30 Psychoanalytikern wurde zusätzlich zur Basisstudie die Bedeutung der Kindheitserfahrungen für die Sozialisation und die heutige Berufstätigkeit als Psychoanalytiker untersucht. 
  • Die Japan-Studie soll die Frage nach dem Einfluss des speziellen politischen, historischen und kulturellen Hintergrundes für die Verarbeitung der Kriegskindheit untersuchen. Dazu werden zusätzlich ca. 15 Interviews mit japanischen Kriegskindern geführt und mit einem parallelisierten Sample aus der Basisstichprobe verglichen.

Generelles Ergebnis 

Die Untersuchungen haben das Wissen um die Verarbeitung von kollektiven Belastungen wie dem Kindschicksal bereichert. Als Ergebnis liegen Erkenntnisse über die Einflüsse von Kriegsereignissen und Nationalsozialismus auf die Erlebnis-Verarbeitung und die späteren Repräsentanzen und Einstellungen von Betroffenen vor. Dabei handelt es sich um eine Erkundungs- und Grundlagenstudie, die keine unmittelbare Nutzanwendung hat, aber einen wertvollen Wissenshintergrund für den Einfluss kollektiver Schicksale und ihrer Behandlung eröffnet.

Prozedere 

  • Die Interviewphase wurde 2007 abgeschlossen. Es wurden 65 Interviews in der Allgemeinbevölkerung und 30 Interviews mit Psychoanalytikern durchgeführt.
  • 2006/07 Der überwiegende Teil der Interviews wurde transkribiert.
  • 2007/08 Die Auswertungsmethodik wurdekonzipiert und erprobt. Ratertrainings wurden durchgeführt.
  • 2009 - 11 Erste Ergebnisse wurden im Frühjahr 2009 auf einem Symposion in der Universität München vorgestellt, weitere auf der Europäischen Tagung für traumatischen Stress in Wien im Sommer 2011 und anlässlich der 60-Jahres-Feier der Konan-Universität in Kobe / Japan im Oktober 2011.
  • 2012 Die Ergebnisse liegen als akademische Arbeiten (siehe Themata) vor uind wurden in Zeitschriften und in einer Monografie publiziert (siehe Publikationen).

Projektleiter

  • Prof. Dr. med. Michael Ermann
    Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytiker
    Leiter i.R. der Abteilung für Psychotherapie und Psychosomatik
    Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Ludwig-Maximilians-Universität München
    www.m-ermann.de

Wissenschaftliche Mitarbeiter - Members of the Research Groups

Arbeitsgruppe München / Munich Working Group

  • Sabrina Alegiani Sagnotti, Dipl.-Psych.
  • Andrea Bauer, Dr. med., Psychotherapeutin (Doktorandin)
  • Robert Brey, Arzt
  • Daphne Cisneros, Dipl.-Psych. (Diplomandin)
  • Yuko Gfeller-Matsunaga, Dr. med. (Doktorandin)
  • Susanne Haberstroh, Zahnärztin, Dr. med. dent., (Doktorandin)
  • Dr. med. Elisabeth Heidtmann, Fachärztin für Psychotherapeutische Medizin, Psychoanalytikerin
  • Marie-Luise Hughes, Dipl.-Psych. (Diplomandin)
  • Harald Kamm, Dr. rer. biol. hum., Dipl.-Psych., Psychologischer Psychotherapeut, Psychoanalytiker, (Doktorand)
  • Daniel Katz, Dipl.-Psych. (Diplomand)
  • Manuel Krinner, cand. med. (Doktorand)
  • Thomas Krüger, Dr. med., Facharzt für Psychotherapeutische Medizin, Psychoanalytiker, (Doktorand)
  • Cecilie Loetz, Dipl.-Psych. (Diplomandin) 
  • E. Susanne Loetz, Dipl.-Psych., Psychologische Psychotherapeutin, Psychoanalytikerin
  • Christa Memmert, Dipl.-Psych. (Diplomandin) 
  • Karin Monsees, Dipl.-Psych. (Diplomandin)
  • Christa Müller, Dr. phil., Dipl. Psych., Psychologische Psychotherapeutin (Psychoanalyse) (Doktorandin). 
  • Victoria-Luise Zorn, M. Sc. (Diplomandin) 

    Supervision:
  • Dagmar Pape, Dipl.-Psych., Psychologische Psychotherapeutin, Psychoanalytikerin

    Methodische Beratung:
  • E. Susanne Loetz, Dipl.-Psych., Psychologische Psychotherapeutin, Psychoanalytikerin
     

Arbeitsgruppe Kriegskindheit in der Dt. Ges. f. Analytische Psychologie (DGAP)

  • Elke Metzner, Dipl.-Psych., Psychologische Psychotherapeutin, Psychoanalytikerin (DGAP), Leiterin der AG Kriegskindheit in der DGAP
  • Dr. med. Thomas Krüger, Facharzt für Psychotherapeutische Medizin, Psychoanalytiker (DGAP)

Arbeitsgruppe Greifswald / Greifswald Working Group

  • Dr. med. Philipp Kuwert, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Oberarzt der Psychiatrischen Klinik der Universität Greifswald in Stralsund
  • Anna Träder, Dipl.-Psych.

Arbeitsgruppe Bremen (in Kooperation)

  • Prof. Dr. Elke Reinke (Leitung)
  • Karin Monsees, Dipl.-Psych. (Diplomandin im Projekt)

Wissenschaftlicher Beirat - Scientific Advisory Committee

  • Gudrun Brockhaus, München
  • Shmuel Erlich, Jerusalem
  • Harald Freyberger, Greifswald
  • Heiner Keupp, München
  • Jürgen Körner, Berlin
  • Otto F. Kernberg, New York
  • Marianne Leuzinger-Bohleber, Frankfurt am Main
  • Wolfgang Mertens, München
  • Martin Parsons, Reading (GB)
  • Annemarie Sandler, London

Müller C (2014) Schatten des Schweigens, Notwendigkeit des Erinnerns. Kindheiten im Nationalsozialismus, im Zweiten Weltkrieg und in der Nachkriegszeit. Psychosozial-Verlag, Gießen

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Mori S, Hitomi S, Ermann M (2012) Sensoutaiken ni miru „higai“ to „kagai.“ Sensou no Kodomojidai o Kangaeru: Taiken no Kiroku to Rikai no Kokoromi. Heibonshya, Tokyo, S.232-281. (Opfer und Tater im Kriegserelebnis. In: Mori S, MinatomichiT (Hrsg), Überlegungen zur Kriegskinheit: Ein Versuch)

Ermann M (2012) Germans Reporting about their Childhood in the WWII and the Nazi Era. Adolescent Psychiatry 2  in press

Ermann M (2011) Unauslöschbare Spuren - Kriegskinder sechs Jahrzehnte später. Zeitschrift für Funktionelle Entspannung  38: 9 - 19

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Auch in / see also: Spranger, H (Hg/Ed) Der Krieg nach dem Krieg. Spätfolgen bei traumatisierten Menschen. Books on request, Norderstedt, 88 - 98

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Kuwert P, Spitzer C, Freyberger HJ, Ermann M (2007) : Sixty years later: Post-traumatic stress symptoms and current psychopathology in former German children of World War II. Internat Psychogeriatrics 19: 782 - 784

Kuwert P, Spitzer C, Träder A, Freyberger HJ, Ermann M (2007): Posttraumatische Belastungssymptome als Spätfolge von Kindheiten im Zweiten Weltkrieg. Psychotherapeut 52: 212 - 217

Ermann M, Hughes M-L, Katz D (2007) Kriegskindheit in Psychotherapieberichten. Forum Psychoanal 23:181–191

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