Was ist Psychoanalyse?
Quelle: DPV - Deutsche Psychoanalytische Vereinigung
Im Jahre 1896 prägte Sigmund Freud den Begriff Psychoanalyse für die von ihm begründete und entwickelte Wissenschaft von den unbewußten Vorgängen im Seelenleben. In seiner späteren Arbeit Psychoanalyse und Libidotheorie (1923, GW XIII, S. 211) wählte er die Definition, die seitdem in der internationalen wissenschaftlichen Gemeinschaft der Psychoanalytiker als verbindlich anerkannt und damit zu einem Teil ihres common ground geworden ist. Dort hat Freud geschrieben:
"Psychoanalyse ist der Name 1. eines Verfahrens zur Untersuchung seelischer Vorgänge, welche sonst kaum zugänglich sind; 2. einer Behandlungsmethode neurotischer Störungen, die sich auf diese Untersuchung gründet; 3. eine Reihe von psychologischen, auf solchem Wege gewonnenen Einsichten, die allmählich zu einer neuen wissenschaftlichen Disziplin zusammenwachsen."´
Die Psychoanalyse geht als Konflikttheorie von widerstreitenden Kräften in der Persönlichkeit aus. Das Ziel ihrer Behandlungsmethode besteht darin, dem Patienten bei der Suche nach einer persönlichen Kontinuität und bei der Aneignung unbewußt gewordener Lebensge-schichte zu helfen. Ziel ist nicht die Entwicklung einer harmonischen Persönlichkeit. Die Psychoanalyse bietet dem einzelnen Menschen vielmehr eine Methode an, seine unbewußten Motive selbst zu erforschen und dabei deren Existenz anzuerkennen sowie abgespaltene und abgewiesene Teile seines Selbst zu integrieren. Denn von unbewußten Motiven, wie zum Beispiel von unbewußten Schuldgefühlen, erlebt sich ein Mensch z. B. in Form von Hemmungen, Arbeitstörungen oder auch Selbstbestrafungstendenzen bis hin zu schweren Depressionen fremdbestimmt. Insofern geht es der Psychoanalyse um eine Befreiung von verinnerlichten Fremdbestimmungen, die Ursachen für psychische Störungen und damit verbundene Symptome sind.
Psychoanalytiker verkünden keine Wahrheiten. Es geht ihnen vielmehr darum, dem Subjekt einen Raum und Bedingungen für eine authentische und wahrhaftige Kommunikation zu schaffen. Die Fähigkeit dazu basiert auf einem bewußten und selbstverantwortlichen Denken, das sich aus den emotionalen Erfahrungen unserer Kindheit heraus entwickelt. Denn Triebe, Emotionen und ihre Schicksale bestimmen den seelisch-geistigen Wachstumsprozeß des Menschen. Sie bestimmen seine geistige Wachheit, Neugier und Kreativität ebenso wie sein Erleben von Wirklichkeit und Lebendigkeit.
Wenn aber konflikthaft erlebte Emotionen zu schmerzlich und deshalb bedrohlich sind, werden diese als Formen einer Fremdbestimmung erfahren und haben weitreichende psychische Störungen zur Folge. Emotionale Erfahrungen neh-men eine traumatische Qualität an, wenn die wichtigen Bezugspersonen einem Kind in seinen ersten Lebensjahren nicht die notwendigen zuverlässigen und emotional befriedigenden Beziehungserlebnisse anbieten. Denn nur in einer hinreichend positiv erlebten Beziehung kann ein Kind die in seiner Entwicklung unvermeidlichen Erfahrungen von Schmerz, Haß, Abhängigkeit, Angst und Schuld, Neid und Eifersucht, Frustration und Verlust ertragen lernen. Wenn dies nicht gelingt, ist die Entwicklung der kindlichen Psyche umfassend gefährdet. Wenn nämlich emotionale Erfahrungen nicht verarbeitet und integriert werden können, werden sie zu einem Trauma und behindern dann erheblich die gesamte psychische Entwicklung. Mit den Folgen hat die Psychoanalyse als Krankenbehandlung zu tun, aber auch andere Humanwissenschaften: so die Medizin mit den psychosomatischen Erkrankungen, die Pädagogik mit Verhaltens- und Lernstörungen, die Psychiatrie mit schweren psychischen Defekten, aber auch die Gesellschaft insgesamt. Zum Beispiel können enttäuschte Heilserwartungen in Fremdenhaß umschlagen und abgelehnte Selbstanteile mittels Projektionen anderen zugeschrieben und dort bekämpft werden.
Emotionale Aktivität ist für den Menschen eine Herausforderung und oft mit Angst verbunden, der Angst vor dem Unbekannten im anderen und in uns selbst. Die Psychoanalyse kann dem einzelnen Menschen helfen, sich dieser Herausforderung neu zu stellen. Die Befreiung des Erlebens und Denkens in einer psychoanalytischen Behandlung erwächst auf dem Boden eines oft schmerzlichen Erkenntnisprozesses, der nur gelingen kann, wenn die analytische Situation von einer Atmosphäre der Toleranz für das unannehmbar Erscheinende geprägt ist. Wissen zu wollen und dabei der Wahrheit verpflichtet zu sein, sind Grundhaltungen der Psychoanalyse. Diese Grundhaltung, verbunden mit einer Aufmerksamkeit des Analytikers, die nicht auf etwas Bestimmtes ausgerichtet ist, wenn er dem Patienten zuhört, wird als die gleichschwebende Aufmerksamkeit bezeichnet. Diese Einstellung des Analytikers zusammen mit seinem Angebot an den Patienten, alles mitzuteilen – dies wird als die freie Assoziation bezeichnet – sind die methodischen Bedingungen, um einen analytischen Prozeß einzuleiten, in dem das Unbewußte im Erleben der analytischen Beziehung aktiviert, gedeutet und damit erkennbar werden kann.
Mittels dieser Methodik entwickelt sich ein spezifisches Beziehungserleben zwischen dem Analysanden und seinem Analytiker. Die moderne psychoanalytische Entwicklungsforschung hat gezeigt, wie die seelische Struktur, der Kern des Selbstgefühls und des Erlebens von Wirklichkeit, das identisch ist mit dem affektiven Existenzerleben, auf der Verinnerlichung früher Beziehungserfahrungen gründet. Solch frühe Beziehungsmuster werden in der psychoanalytischen Behandlung wiederbelebt. Die psychoanalytische Theorie beschreibt diese Vorgänge als Übertragung. Im Zentrum der psychoanalytischen Aufmerksamkeit stehen nicht allein abgewehrte Triebimpulse, sondern die Objektbeziehung, wie sie sich im emotionalen Erleben in der Übertragung und der Gegenübertragung zwischen Analysand und Analytiker in der psychoanalytischen Behandlungssituation aktualisiert. Die therapeutische Interaktion, die die Erkenntnisse über die frühe Zwei-Personen-Beziehung von Mutter und Kind wie auch über Drei-Personen-Beziehungen (Vater-Mutter-Kind, Geschwister-Mutter-Kind) benutzt, wurde zu dem entscheidenden therapeutischen Instrument.
Sobald ein Mensch sich nicht mehr flexibel und lernfähig auf innere und äußere Anforderungen einstellen kann, führen Hemmungen oder Blockierungen zu neurotischen und psychosomatischen Erkrankungen. Die Entwicklung zu einer bewußten Individualität, zu der die Psychoanalyse beitragen will, soll den einzelnen dazu befähigen, seine Gedanken, Gefühle und Wünsche als seine eigenen zu akzeptieren und zu einem Engagement in der Welt umzuwandeln.
Eine psychoanalytische Behandlung oder Kur braucht Zeit und ist für beide Teilnehmer schwierig. Doch wie läßt sich ein solcher psychoanalytischer Prozeß etwas anschaulicher beschreiben?
Der Prozeß findet in einem Setting statt, das vom Analytiker zur Verfügung gestellt wird. Das analytische Setting setzt sich zusammen aus einem ruhigen Raum, einer Couch und einem Sessel, einer kontinuierlichen und regelmäßigen Frequenz der Sitzungen, gewöhnlich vier bis fünf Stunden in der Woche, und einem aufmerksamen Analytiker, der zuhört, seine Gedanken und Gefühle, die in ihm wachgerufen werden, reflektiert und auf diese Weise die freien Assoziationen des Patienten zu verstehen sucht und dies dem Patienten mittels Deutungen mitteilt. Die Arbeit des Analytikers besteht darin, sowohl das Setting wie auch seine psychische Einstellung der freischwebenden Aufmerksamkeit und seine Kompetenz zur Formulierung von Deutungen über alle Wechselfälle der Analyse hinweg aufrechtzuerhalten.
Ein wichtiger Fokus dieser Arbeit stellt die stufenweise Wahrnehmung von formalen und inhaltlichen Mustern in dem assoziativen Material dar. So können z. B. Beziehungsmuster zu den Eltern am Ende einer Sitzung wach werden. Dann erscheint die Annahme plausibel, daß einer der Konflikte die Trennung von den Elternfiguren betrifft, der sich in der Übertragung darstellt und dem Patienten gedeutet wird. Der Analytiker wird beobachten, in welcher Weise der Patient auf die Deutungen reagiert. Wird der Patient diese akzeptieren und darüber nachdenken? Wird der Patient zustimmen, aber sich einem anderen Thema zuwenden oder aber die Deutung ablehnen? Wird der Patient ärgerlich oder launisch reagieren usw., oder fühlt er sich durch die Deutung angegriffen? Hinter diesen unterschiedlichen Reaktionstypen werden weitere Verhaltensmuster erkennbar, so daß allmählich ein dynamisches Gerüst der geistigen Funktionsweise und seiner unbewußten Phantasien entsteht, das sich rund um die komplexe Übertragungs- und Gegenübertragungsbeziehung entwickelt.
Mit diesen komplexen Reaktionsweisen sucht der Patient zu vermeiden, daß Angst auslösende, schmerzliche und verwirrende Gedanken, Impulse und Gefühle aufsteigen. Sie variieren von subtilen Abwehrmanövern, die den Analytiker in die Irre zu leiten suchen bis hin zu groben Versuchen – insbesondere durch ein Agieren –, die Fähigkeit des Analytikers zum Denken zu unterminieren. Das kann die Analyse in Frage stellen. Unter diesen Umständen besteht die zentrale Aufgabe der Arbeit des Analytikers darin, die Intensität der in ihm ausgelösten Gefühle in sich zu bewahren und wahrzunehmen, um auf diese Weise zu versuchen, die Dynamik der aktuellen Situation verstehen und deuten zu können. Für den Analytiker besteht die Gefahr, daß er von den Projektionen und Manipulationen des Patienten überwältigt wird, so daß er nur noch reagiert, anstatt zu bewahren und zu reflektieren. Der immense emotionale Druck kann für den Analytiker extrem belastend sein, insbesondere wenn die Unterbrechungen zwischen den Sitzungen mit Angst und Sorge um den Patienten und die Analyse aufgefüllt werden. Das Klischee von dem unbeeinflußbaren und unberührten Analytiker hat kaum etwas mit der Wirklichkeit psychoanalytischen Arbeitens zu tun.
Das Bild des einsamen Analytikers in seinem Elfenbeinturm ist ein weiteres Klischee. Denn die Arbeit des Analytikers betrifft auch Bereiche außerhalb seiner Praxis. Freud war es, der 1919 die Empfehlung gab, daß der Analytiker Wege finden müsse, um seine Fähigkeiten auch denen zukommen zu lassen, die sich keine Psychoanalyse leisten können. Dies führte zur Entwicklung unterschiedlicher Techniken, welche ursprünglich von der analytischen Technik und deren Erkenntnissen abstammen. Psychoanalytiker waren die Vorreiter dieser Entwicklungen, so der Entwicklung verschiedener Formen der Einzeltherapie, der Gruppenanalyse und -therapie, der Balintgruppen für Ärzte und verschiedener Beratungsformen. Auf dem von S. Freud geschaffenen Fundament der Psychoanalyse hat sich seit dem Erscheinen der Traumdeutung (1900) eine Vielzahl neuer Theorien und Techniken entwickelt, mit denen sich die Kreativität sowie die Lebendigkeit der Psychoanalyse immer wieder neu erweist.